Die missverstandene Allianz
Jahrelang ging es in der Trauerforschung um das große Loslassen. Die Zurückbleibenden müssten ihre Toten loslassen, so war der Grundtenor. Zum Glück ist diese für viele kaum einlösbare Zielsetzung vom Tisch. Vor allem verwaiste Eltern wehrten sich vehement gegen dieses Ansinnen.
Für sie erwies es sich eher als heilsam, ihren gestorbenen Kindern weiterhin einen Platz in ihren Leben geben zu können.
Der Trauerforscher William Worden war einer der ersten, der die auch von ihm propagierte Traueraufgabe des Loslassens korrigierte. Der überkommenen Aufforderung, emotionale Energie von unseren Verstorbenen abzuziehen, um sie in andere Beziehungen zu investieren, stellte er eine neue, sinnhaftere Aufgabe gegenüber: Für die Toten einen neuen Platz im Leben zu finden und weiterzuleben.
Du gingst, du bleibst
Bleibt zu fragen, wie dieser neue Platz aussehen könnte. Die deutschsprachige Trauerforscherin Chris Paul führt aus, welche Formen dieser neue Platz annehmen kann:
1. Manche Menschen besuchen ihre Toten auf dem Friedhof oder woanders, kümmern sich um das Grab. So werden sie, zwar an einem neuen Ort, zum Bestandteil des Alltags.
2. Andere nehmen sich ihre Toten in einigen Aspekten zum Vorbild.
3. Umgekehrt lassen sich Hinterbliebene zuweilen durch Erinnerungen an eher schwierige Biografien vor Fehlern nachhaltig warnen und nehmen bewusst andere Haltungen an.
4. Auch das innere Zwiegespräch mit den Toten, ihre Präsenz als Ratgeber*innen, Zuhörer*innen darf lebendig bleiben.
5. Andere erleben ihre Toten im Annehmen der eigenen Biografie und Lebensgeschichte als Teil der eigenen Identität.
Der Mensch stirbt, die Beziehung lebt
Möglichkeiten gibt es viele. Sicherlich müssen sich Hinterbliebene mit der Zeit von dem Wunsch lösen, ihren Toten in vertrauter, körperlicher Form auf dieser Erde wieder zu begegnen. Wohl aber nicht von dem Wunsch, in neuer Form mit ihnen verbunden zu bleiben.
Indem wir den Toten einen neuen Platz in uns zuweisen, eröffnen sich in uns selbst neue Plätze im Leben: Wir werden frei, neue Rollen anzunehmen, neue Erfahrungen zu machen oder auch neue Beziehungen einzugehen.
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