Traumatische Trauer – gut, zu wissen ...

In den Anfangsmonaten dieses Jahres starben überdurchschnittlich viele Menschen plötzlich und unerwartet und relativ jung. So hat es zumindest das trostwerk erlebt und auch in der Presse wurde über viele solcher Tode berichtet. Gleichzeitig leben vermehrt Menschen in Deutschland, die in jüngerer Zeit herbe Verluste erlitten, dabei Gewalt erlebten, ihr soziales Netz verloren und in ihrem Weltverständnis stark erschüttert wurden.
All das sind Verluste, die das Potential in sich bergen, den Weg zu der so notwendigen Trauer zu verstellen. Denn gerade wenn der Verlust
• sich plötzlich ereignet (Herzinfarkt, Suizid, Unfall)
• unter Umständen von Gewalt  begleitet ist (Totschlag/Mord, Bombenfall, Erschießung oder auch Naturgewalt)
• und sich Menschen darin extrem ausgeliefert und ohne ausreichende Unterstützung erleben,
nimmt dieser leicht den Charakter eines Schockerlebnisses (Trauma) an, das den Körper und Geist in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Expertinnen sprechen von „traumatischer Trauer“, wenn dieser Zustand länger als sechs Monate anhält. *


Was passiert auf der physischen und psychischen Ebene?


FLIGHT and FIGHT
Zunächst schaltet der Organismus in einen Überlebensmodus um: Veränderungen im sympathischen Teil des autonomen Nervensystems ermöglichen Muskeln und lebenswichtigen Organen eine stärkere Versorgung mit Blutglucose. Den Skelettmuskeln wird somit mehr Energie zugeführt, was den Organismus in die Lage versetzt, besser kämpfen oder vor gefährlichen Situationen fliehen zu können (Michaela Huber, Trauma und die Folgen, 2007, S. 41). Dabei kann „Flucht“ sehr konkret im Sinne von Ortswechseln vollzogen werden, aber auch bedeuten, dass Menschen sich in Aktionismus, Suchtmittel, religiöse Vorstellungen etc. flüchten. Andere wiederum kämpfen, treten aggressiv auf. Der innere Energiepegel ist hoch und nicht leicht abzubauen.

 

FREEZE
Erkennen Menschen, dass weder Kampf noch Flucht weiterhin möglich sind, erstarren sie oft (freeze) und das Verlustgeschehen wird mit Hilfe der hohen Energie zum Schutz des Menschen „eingefroren“: „Es ist, als ob das Gehirn sich sagt: Ich bringe den Organismus nicht erfolgreich aus der Situation heraus, und ich kann den aggressiven Reiz nicht äußerlich niederringen – also muss ich genau dies intern tun: Ich mache den aggressiven Reiz unschädlich und erlaube dem Organismus, sich innerlich davon zu distanzieren.“ (Huber, 2007,43). Und tatsächlich schüttet der Körper in solchen Situationen vermehrt Endorphine aus, was dazu führt, dass Schmerz und Schrecken nur gedämpft wahrgenommen werden. Eigentlich müsste der Mensch schreien, um Hilfe rufen, weinend zusammenbrechen, stattdessen erstarrt er, weil hohe Mengen von Adrenalin und Noradrenalin aus der Nebennierenmark durch den Körper rasen. Menschen, die einen Verlust erlebt haben, wundern sich dann, dass sie gar nicht weinen können. Und für einige Zeit ist eine solche Schockstarre auch gut.
Nur auf Dauer unterbricht sie die Verbindung zum eigenen Selbst, zu anderen Menschen, zur Welt, Natur und zu eigenen spirituellen Quellen. Traumatisierte sind von sich selbst entfremdet, verlieren ihren Glauben, fühlen sich kraftlos und vom Leben abgeschnitten und können nicht zu ihrer Trauer finden. 

 

VERÄNDERTE ERINNERUNGSSTRUKTUR
Auch die Erinnerungsstruktur ist verändert. „Normalerweise“ wirkt  das erinnernde Erzählen über das Sterben und den Tod entlastend und verändert sich mit jedem Wiedererzählen, d.h. der Tod wird mehr integriert. Im Gegensatz dazu bleibt die Erzählung vom Sterben und Tod bei Traumatisierten oft unverändert in Wortwahl, der Abfolge der Ereignisse und in den gezeigten Gefühlen. Anstatt zu entlasten erhalten sie mit jeder Erzählung mehr Gewicht. Daher empfehlen Trauertherapeutinnen oft, zunächst auf das Erzählen der Verlusterfahrung zu verzichten, stattdessen innere Ressourcen zu stärken und Erinnerungen an den/die/das Verlorene jenseits von traumatischen Geschehen zu ermöglichen.


Traumatische Trauer ist eine tiefgehende Verletzung, die in der Regel Fachleute braucht, die mit den Betroffenen und ihrer Angst arbeiten. Was wir aber alle tun können, ist dazu beizutragen, dass Traumatisierte sich sicher, eingebunden und zunehmend in ihrer eigenen Kraft fühlen können.
Wir können helfen, soziale Netze zu aktivieren und das Körperbewusstsein zu stärken. Gemeinsam spazieren oder wandern zu gehen, radzufahren, Federball oder Tischtennis zu spielen können sich dabei als genauso hilfreich erweisen wie gemeinsam zu kochen und zu essen. Auch können wir uns für die Lebensgeschichten der Gestorbenen (jenseits ihrer Todesumstände) interessieren, nachfragen, uns erzählen lassen. Oder Gespräche über das Verständnis von Welt und Leben anstoßen, das sich durch die Verlusterfahrung in der Regel verschiebt.


Wir können oft einiges tun. Gut zu wissen?

 

* Eine Arbeitsgruppe des Bundesverbandes Trauerbegleitung e.V. systematisierte mögliche Trauerverläufe in folgende vier Kategorien, die im deutschsprachigen Raum viel Zuspruch erhielten: Nicht-erschwerte Trauer, erschwerte Trauer, traumatische Trauer und komplizierte Trauer (vgl. Chris Paul (Hg), Neue Wege der Trauer- und Sterbebegleitung, Gütersloh Neuausgabe 2011, 69)

 

 

 

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