Schön wär's!


Er hat ja auch so viel geraucht. Kein Wunder, dass er Lungenkrebs hat. Eine vielfach getroffene Aussage - nach dem Motto Strafe muss sein. 

Sie hat den Kampf gegen den Krebs verloren. Wie oft ist das in Traueranzeigen zu lesen. Der Tod kommt einer Niederlage gleich. 


Dabei haben Krankheit und Tod jeher zum Leben dazu gehört. Es gab nie Zeiten oder Orte, wo Menschen ausschließlich gesund waren oder nicht starben. Manch einer wird einwenden: Ja, ab 80 ist das ja auch okay. Aber schon mit 60 oder gar 40 oder noch jünger …  Von einer natürlichen Reihenfolge ist dann die Rede: Die Älteren sollen vor den Jüngeren sterben. Alles andere gilt als grausam und ungerecht. 

 

Aber ist es das wirklich? Ein solches Urteil setzt die schöne Vorstellung voraus, dass Menschen in harmonische Familien hinein geboren werden, behütet aufwachsen, ihre Lebenskreise weiten, ihre Potentiale leben, sich in Liebe binden, womöglich selbst Familie gründen, um irgendwann einmal alt und lebenssatt zu sterben. Schön wär’s! 

Nur verläuft Leben in den wenigsten Fällen so glatt: Erziehungs- oder Schulprobleme,   Schwierigkeiten seinem Leben eine gute Ausrichtung zu geben, Arbeitslosigkeit, fehlende finanzielle oder auch emotionale Ressourcen, schwierige Partnerschaften bis hin zu Trennungen, Aggressionen und Depressionen, Unfälle, Krankheiten und, und, und säumen die meisten Lebenswege und fordern einen Umgang mit ihnen heraus. 

Die Psychologie lehrt, dass der erste und wichtigste Schritt ist, all das, was einem begegnet, an- und zu sich zu nehmen. Schmerzen und Leiden also nicht wegmachen zu wollen, sondern sie als Teil des eigenen Lebens verstehen zu lernen. Daraus ergeben sich oft veränderte Sicht- und Handlungsweisen. 

Der US-amerikanische Autor Ken Wilber unterscheidet zwischen Krankheit und Leiden. Krankheit an sich sei weder gut noch böse, sondern einfach nur eine Tatsache. Das Leiden aber habe mit den kulturellen Deutungen der Krankheit zu tun. Wenn ein Raucher für seinen Lungenkrebs verantwortlich gemacht wird, ist das keine wissenschaftliche Erkenntnis - dafür ist eine Krebserkrankung viel zu komplex, als dass sie allein auf das eigene Verhalten zurückgeführt werden könnte. Wohl aber kommt eine solche Aussage einem vernichtenden Urteil gleich. Die Gesellschaft gibt der Erkrankung damit eine Bedeutung, die zu großem Leiden führen kann und die Selbstheilungskräfte eher hemmt, wenn sie verinnerlicht wird. Leiden entsteht also immer da, wenn Menschen eine urteilende Haltung einnehmen, anstatt zu schauen, was ist, und das Leben im gegebenen Rahmen für sich so wohltuend wie möglich zu gestalten. 

 

Die Konfrontation mit einer schweren Krankheit, und das gilt für den Tod genauso, kann zu einer tiefen Auseinandersetzung mit sich selbst führen. Bewusster als zuvor wird manchmal wahrgenommen, was für eine/n 

lebenswichtig ist, und so manch eine/r wird umso dankbarer für all die Momente und Menschen, die ihm oder ihr geschenkt sind. Krankheit und Tod führen dann zu einer Verdichtung von Leben und erwecken durch die Begrenzung innere Kraft und Lebensfreude. Die Abwesenheit von Schmerzen und Leiden wird nicht zum allein gültigen Kriterium für „gutes“ Leben oder „gutes“ Sterben. 

Und Sätze wie Sie hat den Kampf gegen den Krebs verloren. oder Er hat ja auch so viel geraucht. Kein Wunder, dass er Lungenkrebs hat. würden dann aus den Zeitungen und Gesprächen verschwinden – wenn Krankheit nicht als Strafe, Tod nicht als Niederlage und Leben nicht als Belohnung gedeutet würden. 


 

 

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