Der Tod und die Stille

Oft wird in  unserem Kulturkreis der Tod mit dem Schlaf verglichen. Ruhe sanft, Rest in Peace wünschen wir unseren Toten. Das  Wissen aber darum, dass es dazu eine gewisse Stille braucht, eine Verlangsamung von Bewegung, ja, manchmal sogar ein Stillstehen, scheint selten geworden zu sein. 

In früheren Zeiten wurde dem Tod geradezu mit Ehrfurcht begegnet, was sich in bestimmten Gebräuchen niederschlug: Auf Friedhöfen etwa hielten Menschen beim Anblick eines Trauerzuges inne, traten zur Seite, machten Platz und lupften womöglich noch ihren Hut. In Anerkennung, dass mit jedem Tod die Welt für einen Moment still steht, aber auch aus Respekt vor den Toten und in dem Wissen darum, dass eine/n selbst irgendwann der Tod ereilen wird. 

Heute ist diese Gepflogenheit weitgehend verloren gegangen. Fußgängerinnen und Radfahrer drängeln sich an Trauerzügen vorbei. Autofahrer:innen versuchen, noch schnell vor dem Trauerzug die Straße zu queren oder fahren durch sie hindurch. Stehenbleiben und den Motor abstellen ,  kommt selten vor. Denn für manche Autofahrer:innen ist zumindest der Ohlsdorfer Friedhof zur günstigsten Strecke von A nach B geworden. Ohne Ampeln, kaum Geschwindigkeitskontrollen, breite Straßen, besser geht es kaum. 

Nun hat der Friedhof dem einen Riegel vorgeschoben und mitten im Straßenverlauf eine Schranke installiert, die befugte von unbefugten Autofahrer:innen trennen soll. Was auf ungeheuren Widerstand stößt. Selbst nach vier Wochen noch muss ein Sicherheitsdienst an der Schranke stehen,  dessen Personal viele Beschimpfungen einstecken muss. Mehrfach wurde sogar die Polizei gerufen, um tätliche Auseinandersetzungen zu beenden. 

Und das, obwohl das Verhalten aggressiver Radfahrer:innen bereits zuvor immer mal wieder für Aufsehen gesorgt hat. So dass seit längerem am Eingang des Friedhofes ein Poster mit einem rotumrandeten runden Schild samt durchgestrichenem Rennrad in der Mitte steht, was mit dem Satz kommentiert ist: Auf dem Friedhof dürfen Körper, Seele und Geist Stille finden. Trauer und Abschied brauchen Ruhe und Respekt. So wie Sie sich schützen, den Kopf, die Knie, die Ellenbogen, so brauchen auch Trauernde Schutz. Hier auf diesem Friedhof. Nicht umsonst reden wir von Friedhofsruhe. 

Dabei ist Stille generell für viele vielleicht zunehmend schwer auszuhalten. In unserer schnelllebigen Zeit sind viele dauergestresst, den Dingen und Terminen hinterherjagend und das oft mit gutem Grund. Denn würden wir innehalten und die Welt sich um sich selbst drehen lassen, würden wir vielleicht nicht nur intellektuell, sondern mit all unseren Sinnen merken, wie halt- und sinnlos, ja, sogar gefährlich und gefährdend viele Strukturen sind, die unser Leben prägen. Dann könnten wir nicht einfach so weiter machen, sondern müssten uns vielleicht unbequemen Fragen stellen. 

Fragen, die jeder Tod sowieso aufwirft, denn eine extremere Form von Stille gibt es nicht. Und das fühlt sich für manche sogar unerwartet gut an. Als würde der Vorhang aufreißen und wir dürften für einen Moment hinter die Kulissen schauen und erkennen: Was und wer sind uns wirklich wichtig im Leben? Schlagartig oder auch langsam wird Menschen in der Auseinandersetzung mit dem Tod und der Stille klar, was ihrem Leben zugrunde liegt. Dabei verschieben sich Prioritäten zuweilen in Blitzesschnelle, einst Wichtiges wird unwichtig und bislang Unwichtiges wichtig. Die Welt steht Kopf und verlangt für das eigene und manchmal auch das andere Leben eine Neuorientierung. 

Manche erleben sogar, dass aus einer solchen Auseinandersetzung die Bereitschaft und Kraft erwächst, not-wendig erscheinende Veränderungen anzugehen. An anderer Stelle wiederum stellt sich umso größere Dankbarkeit ein,  die uns Vertrautes mit getieftem  Verständnis fortsetzen lässt. Je nachdem, was wir hinter den Kulissen erspähen ... 

 

 

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